Erziehung kritisch betrachten – ein neuer Blick für Eltern und Kinder

Wenn wir von Erziehung sprechen, tauchen viele Bilder und Erinnerungen auf. Manche klingen nach Sicherheit und Halt, andere nach Strenge, Macht oder Anpassung. Ich frage mich oft: Soll es überhaupt noch Erziehung heissen – oder brauchen wir ein anderes Wort für das, was Kinder und Erwachsene miteinander verbindet?
In meiner Arbeit verwende ich den Begriff Integrative Erziehungsberatung. So heisst dieses Angebot. Und gleichzeitig ist es mir wichtig, Erziehung immer wieder zu hinterfragen. Vielleicht ist Erziehung weniger ein Tun am Kind, sondern vielmehr ein Weg, den wir Erwachsenen gehen. Für mich bedeutet Erziehungsberatung eine Begleitung der Eltern. Es geht darum, alte Muster bewusst zu machen, neue Wege zu entdecken und gemeinsam Möglichkeiten zu gestalten, die zur Familie passen. Kinder sind in ihrem Wesen vollständig und einzigartig. Sie brauchen Erwachsene, die sie sehen, begleiten und unterstützen, damit sie sich in ihrem Tempo und auf ihre Weise entwickeln können.
Wenn Erziehung Beziehung wird: Vertrauen, Augenhöhe und Begleitung
Erziehung kann Beziehung sein – wenn wir sie neu verstehen. Für mich bedeutet das, auf Augenhöhe zu gehen, Gefühle ernst zu nehmen und Vertrauen wachsen zu lassen.
Integrativ heisst für mich, dass Verschiedenes zusammenkommen darf. Unterschiedliche Erfahrungen, Ideen und Sichtweisen fliessen ein – ebenso wie das Wissen aus Pädagogik, Psychologie und Neurowissenschaft. Daraus entsteht etwas Eigenes für jede Familie. Erziehungsberatung wird so zu einer Begleitung, die Eltern stärkt und Kinder in ihrem Sein unterstützt.
Ich gebe gerne Impulse und auch «Rezepte». Jedes Rezept darf angepasst werden – mal erweitert, mal verändert, mal mit neuen Zutaten versehen. So entsteht für jede Familie etwas Individuelles. Manchmal überraschen mich die Ergebnisse selbst, und genau darin liegt für mich der Reichtum dieses Prozesses.
Viele von uns sind mit einer Form von Erziehung gross geworden, die stark auf Gehorsam ausgerichtet war. Strafen, Belohnungen, Drohungen – all das hat Spuren hinterlassen. Vielleicht war es damals selbstverständlich, doch heute dürfen wir uns fragen: Ist das wirklich Erziehung – oder eher ein Machtspiel? Und wollen wir diesen Weg weitergehen?
Wenn ich mit Eltern arbeite, höre ich oft: «Ich will es anders machen – und doch falle ich in alte Gewohnheiten zurück.» Genau hier setzt Integrative Erziehungsberatung für mich an. Wir schauen gemeinsam hin, was sich bewährt hat und was sich wandeln darf.
Ich erlebe immer wieder, dass Kinder von selbst lernen, wenn sie dürfen. Dass sie Verantwortung übernehmen, wenn man ihnen etwas zutraut. Dass sie Ja sagen können, wenn sie auch Nein sagen dürfen.
Vielleicht ist Erziehung in diesem Sinn weniger eine Sammlung von Regeln, sondern ein gemeinsames Gestalten des Alltags. Grenzen gehören dazu – als Vereinbarungen, die Sinn machen und von allen getragen werden.
Der Weg der Erwachsenen – Kinder als Spiegel unserer eigenen Entwicklung
Wenn wir Erziehung kritisch betrachten, merken wir: Die eigentliche Arbeit liegt bei uns Erwachsenen. Kinder sind gut so, wie sie sind. Sie zeigen uns, wer sie sind – und wir können von ihnen lernen, wenn wir bereit sind.
Kinder sind dabei unsere Spiegel. Sie halten uns ungeschönt vor Augen, wo wir gerade stehen – mit all unseren Stärken und auch mit unseren ungelösten Themen. Ich habe die Chance, aufmerksam hinzuschauen: Was möchte mir mein Kind in diesem Moment mitteilen? Welches Gefühl oder welcher Anteil in mir meldet sich?
Diese Arbeit fordert uns heraus und lädt uns ein, genauer hinzuschauen. Sie kann manchmal unbequem und auch schmerzhaft sein. Gleichzeitig schenkt sie Wachstum. Wenn Transformation geschehen darf, entsteht Freude.
Und mit einem Schmunzeln sage ich gerne: Ich liebe die Momente, in denen ich merke, dass ich mit einer Situation besser umgehe, als eine frühere Version von mir es getan hätte. Solche Augenblicke sind kleine Geschenke – und sie betreffen Erziehung genauso wie das ganze Leben.
Meine Einladung
Wenn wir Erziehung kritisch betrachten, öffnen wir eine Tür. Vielleicht erkennen wir, dass Erziehung weniger bedeutet, Kinder zu verändern, sondern vielmehr uns selbst. Wir dürfen uns fragen:
- Was möchte ich meinem Kind wirklich vorleben?
- Welche Muster gehören zu mir und welche dürfen sich wandeln?
- Wo darf Vertrauen mehr Raum bekommen als Kontrolle?
Für mich bedeutet Integrative Erziehungsberatung, Eltern auf diesem Weg zu begleiten. Kinder bringen alles mit, was sie für ihre eigene Entwicklung brauchen. Sie brauchen Erwachsene, die bereit sind, mit ihnen in Beziehung zu gehen und sie in Würde zu begleiten. Vielleicht ist das die neue Form von Erziehung: weniger ein Tun am Kind, mehr ein Wachsen der Erwachsenen.